„Krise? Kennen wir!“ – Die Ostdeutschen haben ihre eigene Art, mit Umbrüchen und Verwerfungen wie die Corona-Krise umzugehen, sagt der Jenaer Kommunikationspsychologe Wolfgang Frindte. Er ist zu Gast bei Anja Reschke im After Corona Club.
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– https://www.youtube.com/playlist?list=PLMJjvZqoYSrB219V8JQpWNRVh_aqVJbO4
„So etwas haben wir noch nie erlebt“, ist in diesen Wochen in der Berichterstattung zur Corona-Krise immer wieder zu hören. Aber sind mit diesem „Wir“ wirklich alle Deutschen gemeint? Oder ist auch das wieder die in den Medien nach wie vor dominierende West-Perspektive? Der Jenaer Kommunikationspsychologe Wolfgang Frindte nimmt einige Unterschied wahr: „Auf der einen Seite sagen die Ostdeutschen: Wir haben auch die Wendezeit selber geschafft, wir sind durchgekommen.“ Eine solche Krisenerfahrung sei jetzt durchaus ermutigend. „Auf der anderen Seite, denke ich, gibt es weitere Unterschiede, die für die Ostdeutschen nach vier Jahrzehnten DDR charakteristisch sind: ein starkes Pflichtbewusstsein, eine Neigung zur Unterordnung, aber auch eine Art von Widerständigkeit.“
Gelassenheit auch ohne Klopapier
Deswegen habe es in Jena, einer der ersten Städte mit Maskenpflicht, auch keine großen Probleme gegeben: Einsicht in die Notwendigkeit und ein gewisser stoischer Stolz, so Frindte, seien dafür verantwortlich. Und auch mit anderen Entbehrungen könne man im Osten etwas gelassener umgehen. Die notorische Panik ums Klopapier sei hier nicht so ausgeprägt gewesen wie im Westen. Aus seiner eigenen Jugend erzählt Frindte, sein Onkel auf dem Dorf habe ihm immer den Tipp gegeben, das Zeitungspapier auf dem Klo – etwas anderes gab es nicht – vorher ordentlich zu rubbeln, dann sei es nicht mehr so glatt. Und auch die Druckerschwärze gehe ab.
Gelassenheit und Improvisationstalent sind, so Frindte, das positive Erbe der DDR-Erfahrung. „Für uns bleibt es wichtig, darauf hinzuweisen, dass es doch ein richtiges Leben im falschen gab.“ – Die Verschwörungstheoretiker und rechten Populisten sind derzeit nicht so präsent; sie konzentrieren sich auf die sozialen Medien, im öffentlichen Diskurs aber hört man wenig von ihnen. Frindte erhofft sich einen Langzeiteffekt, wenn die Zivilgesellschaft die gewonnenen Erfahrungen in die Nach-Corona-Zeit hinüberrettet: „Die Freude darüber, dass wir den neuen solidarischen Umgang dann nicht nur digital oder mit vorsichtiger Nachbarschaftshilfe pflegen können, sondern dass wir es tatsächlich wieder face to face machen können, diese Freude sollten wir uns erhalten. Das wäre eine Möglichkeit, rechte, rechtspopulistische, rechtsextreme Argumente zurückzuweisen – indem wir einfach anders leben.“
Halt in haltlosen Zeiten
Wolfgang Frindtes neues Buch heißt „Halt in haltlosen Zeiten“. Geschrieben vor Corona, aber angesichts der fundamentalen Verunsicherung durch die Pandemie natürlich besonders aktuell. Persönliche Beziehungen, Freundschaften, Familienstrukturen, der wertschätzende Umgang miteinander und, auch das gibt der Marx-Fan Frindte zu, religiöse Bindungen: Das sind die wichtigsten Stützen, wenn Menschen Halt und Orientierung suchen. Dahinter tritt auch die Unterscheidung in Wessis und Ossis zurück. Mehr noch: Die Erfahrung der Corona-Krise kann die alten Differenzen womöglich sogar überbrücken helfen. „Es ist ein Problem, mit dem erstmals das ganze Land, die ganze deutsche Gesellschaft sich beschäftigen muss, das sie bewältigen muss – und das geht nur solidarisch gemeinsam, mit einem großen Maß an aktiver Mitmenschlichkeit.“
After Corona Club: Gesprächsformat mit Anja Reschke
Wolfgang Frindte ist zu Gast im After Corona Club, in dem Anja Reschke mit Fachleuten aus Psychologie, Wirtschaft, Soziologie, Politik, Medizin und weiteren Wissenschaften spricht. Der Debattierklub über unsere Zukunft.
https://www.ndr.de/aftercoronaclub
Den After Corona Club gibt es auch als Audio-Podcast
https://www.ndr.de/nachrichten/info/podcast4712.html
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